„Die Wirklichkeit, von der wir sprechen kännen, ist nie die Wirklichkeit an sich.“
Das Zitat des Physikers Werner K. Heisenberg ist den Erzählungen „Verbrechen“ Ferdinand von Schirachs vorangestellt. Wie repräsentieren wir Wirklichkeit – und was bedeutet das für Literatur? Anhand zunächst dieser Leitfrage haben wir uns den Kurzgeschichten von Schirachs genähert; und zwar hauptsächlich den Erzählungen „Notwehr“ und „Der äthiopier."
Während der Lektüre haben wir erarbeitet, wie schwierig es vor allem in ersterer Erzählung ist, eine eindeutige Zuordnung von Täter- und Opferrollen vorzunehmen. Selbst nach Analyse der vermeintlichen Täterfigur blieben nicht wenige Fragen offen. Allerdings fiel auf, dass von Schirachs Texte in einem nahezu protokollarischen Stil verfasst sind: Die Sätze sind sehr kurz und die Figuren stark nach Typen skizziert, was jedoch der Lektüre zugutekommt; denn auf-grund des einfachen Aufbaus, eignen sie sich für den Einstieg in die Lektüre und das Studium deutscher Literatur. Obwohl die Texte in Japanisch vorlagen, haben die Teilnehmer sie auch teilweise in Deutsch gelesen. Auch die zweite Erzählung „Der äthiopier“ haben wir eingehend besprochen. Wobei hier vor allem die Verbindung von Wirklichkeit und Gesetz bzw. Recht problematisiert wurde. Den Teilnehmern fiel vor allem auf, dass die doch sehr auf ein Idealbild zugeschnittenen Gesetzesvorgaben dem komplexen Alltag häufig nicht gerecht werden. Im übrigen hat die Lektüre auch zur Reflexion über unterschiedliche Auffassungen von Recht und Gesetz in unterschiedlichen Ländern, gerade auch vor dem Hintergrund der Menschenrechte und -würde, geführt.
Abschließend haben wir von Schirachs Texte mit Franz Kafkas „Der Prozess“ verglichen. Infolgedessen wurde diskutiert, ob in unterschiedlichen Kontexten Recht vielleicht ganz anders funktioniert. Besonders Kafkas Text stellte die Teilnehmer vor Schwierigkeiten, sie gewannen hauptsächlich den Eindruck einer „alptraumhaften“ Geschichte. Davon nicht unberührt blieb auch das Thema Literatur überhaupt: Unter Rückgriff auf Friedrich Schillers überlegungen zu Verbrechen in der Literatur, haben die Teilnehmer über eine Verbindung von ästhetik und Verbrechen nachgedacht. Schlussendlich wurde uns allen erneut bewusst, wie schwierig zu durchschauen der Komplex Literatur – Recht – Wirklichkeit eigentlich ist. Zum Nachdenken und zur Diskussion angeregt haben die Texte ohne Zweifel; im übrigen hoffe ich, die Teilnehmer dadurch zur weiteren Lektüre deutscher Texte angeregt zu haben. Gerade weil sie unser Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit ununterbrochen herausfordert.
Kurz nach meiner Ankunft in Japan habe ich auf dem morgendlichen Gang zur Arbeit eine Gruppe älterer Japaner protestieren sehen. Nicht nur das auffallend hohe Alter der Demonstranten fiel mir auf, sondern auch deren Gegenstand: und zwar ging es gegen rauchende Spaziergänger. So funktioniert politische Beteiligung in Japan?, fragte ich mich. Andererseits habe ich einst in Kyōto eine Demonstration für die Bewahrung der Japanischen Verfassung – also politisch eine ganz andere Dimension beobachtet, allerdings waren auch dort die Demonstration hauptsächlich ältere Herrschaften. Welchen Eindruck würden Japaner wohl von deutscher Politik gewinnen? Wie sieht es überhaupt im deutschen Bundestag aus? – Anhand solcherlei Fragen habe ich mit den Teilnehmern der Sprachkneipe diesmal über die deutsche Politik, d.h. das Wahlsystem, die Zusammensetzung des Bundestages sowie die bekanntesten Parteien gesprochen.
Um einen Einblick in die Arbeit des Bundestages buchstäblich zu bekommen, haben wir uns Ausschnitte aus einer Sitzung angesehen: Dadurch konnten die Teilnehmer nicht nur hier und da hilfreiche Vokabeln lernen, sondern überdies das Machen von Politik in Deutschland mit eigenen Augen beobachten; wütende Zwischenrufe, unangebrachte Bemerkungen, Klatschen nur von der eigenen Frak-tion, Hohngelächter – das Verhalten so mancher Abgeordneter sorgte für Heiterkeit auch in der Sprachkneipe. Hierauf haben wir uns auch einen Ausschnitt aus dem TV-Duell aus dem Jahre 2017 ange-sehen, als Angela Merkel gegen Martin Schulz angetreten ist. Dergestalt lernten die Teilnehmer auch das in Deutschland übliche Format des Kanzlerkandidatenduells kennen. Zum Abschluss der Sprach-kneipe, habe ich es mir erlaubt, eine „Bundestagswahl“ unter den Kandidaten durchzuführen, das Ergebnis fiel folgendermaßen aus:
1. Die Violetten, die Freien Wähler und die SPD haben jeweils durch die Erststimme ein Direktmandat erhalten. Da allerdings keine der Parteien mit der Zweitstimme gewählt wurde, fließen die Stimmen nicht in die Verteilung der Bundestagssitze mit ein (Sperrregel: 5%). 2. Die CDU erringt 5 Direktmandate, die Grünen 3, die AFD 1. 3. Über die Zweitstimme ziehen in den Bundestag ein: Die CDU (58%), die Grünen (34%) und die AFD (8%). 4. Ungültige Stimmen: 1 Zweitstimme, 2 Erststimmen.
Die Ergebnisse weichen also nicht allzu sehr von der tatsächlichen Zusammensetzung des deutschen Bundestages ab, auch wenn die SPD sich unter den japanischen Teilnehmern offenbar keiner besonderen Beliebtheit erfreut. Vielleicht würde das Ergebnis anders aussehen, wenn jüngere Japaner gewählt hätten? Anders als in Deutschland habe ich bislang jedenfalls so gut wie keine jungen Japaner demonstrieren, noch sich auffallend für Tagespolitik interessieren sehen.